Wie konnte es so weit kommen?

Ich erinnere mich noch sehr gut an meinen Großvater beim Mittagessen im Kreis der Familie. Wenn er zu Ende gegessen hatte, kehrte er sorgfältig die Brotkrümel zusammen, die auf dem Tischtuch liegen geblieben waren, schob sie in die hohle Hand und leerte diese dann in seinen Mund.
In Süditalien kann man manchmal heute noch alte Leute beobachten. die ein heruntergefallenes Stück Brot aufheben und küssen, bevor sie es auf den Tisch zurücklegen.

wanderungDie jüngeren Generationen mögen alte Leute belächeln, die Krümel essen oder hingefallenes Brot küssen. Ihnen muss diese Form des Respekts fremd sein, schließlich haben ihre Eltern – also die Kinder und Enkel jener, an die ich mich erinnere – schon vor langer Zeit damit aufgehört. Das klingt jetzt wie die alte Leier, wahr ist es trotzdem. Nur, wie konnte es so weit kommen? Warum hat das Essen für uns derart an Wert verloren, dass es ohne die geringste Scham verschwendet werden darf?

Mindestens ein Drittel der globalen Lebensmittelproduktion landet auf dem Müll, entweder bereits während des Prozesses der Ernte, Verarbeitung und Verteilung oder durch Verschulden von uns Verbrauchern, die wir zu viele Reste wegwerfen, zu viele Super-Sonderangebote kaufen, weil wir zu träge oder Opfer des Konsums geworden sind.

Zu den grundlegenden Problemen unserer Zeit gehört die Unfähigkeit, zwischen Preis und Wert unterscheiden zu können. Wir wollen billiges Essen, das immer weniger kostet und wir wollen, dass genug davon produziert wird. Das führt dazu, dass wir schlecht essen, denn der Verlust an Wertschätzung geht einher mit einem Verlust an Qualität. Das Essen verliert reihe Bedeutung, den Bezug zum Menschen Und zu seiner Einbindung in die Natur. Es wird zu etwas, das man leichten Herzens „vergeuden“ kann.

Wenn wir uns darüber empören, dass so viel verschwendet wird, dann müssen wir uns auch darüber empören, wie heutzutage mit unserem Essen umgegangen wird; und zwar von der Aussaat bis zu dem Zeitpunkt, da es in die Supermarktregale einsortiert wird! Nichts demonstriert besser, welchen Grad an Idiotie das System der globalen industriellen Nahrungsmittelproduktion erreicht hat, als die Verschwendung von Essen. Sie ist zum Sinnbild aller Probleme im Zusammenhang mit der extremen Kommerzialisierung geworden.

Die Verschwendung ist aber nicht nur ein ethisches Problem angesichts einer Milliarde Menschen auf dieser Welt, die unter Hunger und Unterernährung leiden, sondern auch ein ökonomisches und ökologisches Problem: Wie viel Geld und Energie könnten weit besser eingesetzt werden, indem ein wirklich nachhaltiges System der Nahrungsmittelproduktion eingeführt würde, das auf lokalen Landwirtschaften und neu erlerntem, intelligentem Konsum beruht. Vorbild hierfür können die traditionellen bäuerlichen Gesellschaften sein, weil sie nicht nur dem Essen Respekt entgegenbrachten, sondern auch Meister im Wiederverwerten und Recyceln waren. Und sie können uns lehren, dass dann, wenn man den Dingen die rechte Wertschätzung entgegenbringt, auch der Genuss eine ganz andere Bedeutung erlangt, allerdings nicht wie heute immer mehr verstanden als Status-Symbol und Luxus, sondern als tiefempfundene Freude am Leben, am wirklichen Wohlbefinden.